Neandertaler-Diät: Maden als überraschende Proteinquelle?

Eine neue Studie stellt die gängige Vorstellung der fleischlastigen Neandertaler-Ernährung in Frage. Forscher vermuten, dass eine bislang unerklärliche chemische Signatur in Neandertaler-Knochen auf den regelmäßigen Verzehr von Maden hindeuten könnte.

Seit Jahrzehnten rätseln Archäologen über eine auffällige chemische Signatur in den Überresten von Neandertalern: extrem hohe Werte des Stickstoff-15-Isotops. Diese Werte, die sogar jene von Spitzenprädatoren wie Löwen oder Wölfen übersteigen, wurden in fossilen Knochen von Neandertalern in Nordeuropa festgestellt. Isotopenanalysen sind ein gängiges Werkzeug, um die Ernährung prähistorischer Lebewesen zu rekonstruieren.

Dabei gilt: Je höher die Position in der Nahrungskette, desto höher der Stickstoff-15-Wert im Gewebe. Gras hat einen bestimmten Wert, ein Reh, das Gras frisst, hat einen höheren, und ein Raubtier, das das Reh frisst, weist einen noch höheren Wert auf.

Die Neandertaler-Werte lagen jedoch noch darüber, was die Forschung vor ein Dilemma stellte. Die hohen Stickstoffwerte waren besonders verwirrend, da der übermäßige Konsum von magerem Fleisch für den Menschen gesundheitsschädlich sein kann.

Diese als Proteinvergiftung bekannte Mangelernährung führt dazu, dass die Leber Schwierigkeiten hat, das Eiweiß abzubauen und den Körper von überschüssigem Stickstoff zu befreien. Bei europäischen Entdeckern Nordamerikas, die sich hauptsächlich von magerem Wild ernährten, war diese Krankheit unter Bezeichnungen wie „Kaninchenvergiftung“ bekannt.

Es wird vermutet, dass Neandertaler die Bedeutung von fetthaltigen Nährstoffen kannten und in einigen Regionen sogar Tierknochen systematisch verarbeiteten, um Fett zu gewinnen.

Eine kühne Hypothese und ihre Überprüfung

Der Anthropologe John Speth von der University of Michigan hatte bereits vor fast einem Jahrzehnt die Hypothese aufgestellt, dass verwesendes Fleisch und Maden einen wesentlichen Bestandteil der prähistorischen Ernährung bildeten.

Seine Annahme basierte auf ethnographischen Berichten indigener Gruppen, die verrottetes Fleisch und Maden als akzeptable Nahrung ansahen. Lange Zeit fand diese Idee in der Forschung kaum Beachtung, da es an konkreten Daten mangelte, die sie untermauern könnten.

Dies änderte sich, als Melanie Beasley, Assistenzprofessorin für biologische Anthropologie an der Purdue University, Speths Hypothese aufgriff. Sie beschloss, diese in einer Studie zu testen. Beasley führte eine zweijährige Untersuchung am Forensic Anthropology Center der University of Tennessee, Knoxville, durch.

Diese Forschungseinrichtung, manchmal auch als „Body Farm“ bezeichnet, dient der Untersuchung von Verwesungsprozessen menschlicher Körper. Dort analysierte sie die Stickstoffwerte in verwesendem menschlichem Gewebe, das im Freien belassen wurde, und insbesondere in den Fliegenlarven, die sich im Muskelgewebe entwickelten.

Maden als „Delikatesse“ der Steinzeit

Die Ergebnisse von Beasleys Studie waren aufsehenerregend: Während die Stickstoffwerte im menschlichen Gewebe im Laufe der Zeit nur moderat anstiegen, beobachtete sie astronomisch hohe Stickstoffwerte in den Fliegenlarven.

Dies deutet stark darauf hin, dass der regelmäßige Verzehr von Tierfleisch, das mit Maden durchsetzt war, die hohen Stickstoffwerte in den Knochen von Neandertalern und frühen modernen Menschen erklären könnte. Die Forscher vermuten, dass Fliegenbesuch auf Fleisch in prähistorischer Zeit unvermeidlich war und Maden somit zu einem festen Bestandteil, wenn nicht sogar zu einer Art „Delikatesse“, der Ernährung wurden.

Diese Erkenntnisse bieten nicht nur neue Einblicke in die Ernährung der Neandertaler, sondern könnten auch die moderne Forensik bereichern. Die Stickstoffwerte in Maden, die sich in menschlichen Leichen entwickeln, könnten Wissenschaftlern helfen, den Todeszeitpunkt genauer zu bestimmen. Die Vorstellung vom Madenkonsum mag aus einer modernen westlichen Perspektive ungewöhnlich erscheinen.

Doch weltweit konsumieren heute mindestens zwei Milliarden Menschen Insekten als Teil ihrer traditionellen Ernährung, wie die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) schätzt.

Kulturelle Parallelen und Studienbeschränkungen

Die Studie verweist auf historische und ethnographische Berichte, die zeigen, dass viele indigene Völker, wie die Inuit, gründlich verrottete, madenbefallene Tiernahrung als hochbegehrte Kost und nicht als Hungerration ansahen.

Diese Gruppen ließen Tiernahrung routinemäßig, oft sogar absichtlich, bis zum Punkt der Zersetzung reifen, wo sie von Maden wimmelte und einen Geruch verströmte, der europäische Entdecker, Pelzjäger und Missionare anekelten.

Knud Rasmussen, ein grönländischer Polarforscher, beschrieb in seinem Buch „The Netsilik Eskimos“ aus dem Jahr 1931 eine solche kulinarische Erfahrung, bei der seine Begleiter Maden mit Genuss aßen und argumentierten: „Du selbst magst Karibufleisch, und was sind diese Maden anderes als lebendiges Karibufleisch? Sie schmecken genauso wie das Fleisch und erfrischen den Mund.“

Casu Marzu: Ein Käse mit tierischer Einlage

Ein bekanntes Beispiel für den Verzehr von Larven in westlichen kulinarischen Traditionen ist der sardische Käse Casu Marzu. Dieser Schafskäse wird bewusst von den Larven der Käsefliege befallen, die durch ihre Verdauungsenzyme den Käse erweichen und ihm seinen charakteristischen, intensiven Geschmack verleihen. Obwohl er in der Europäischen Union wegen Hygienestandards verboten ist, wird er auf Sardinien weiterhin hergestellt und konsumiert.

Trotz der aufschlussreichen Ergebnisse von Beasleys Forschung weist die Studie auch einige Einschränkungen auf. Die Untersuchung basierte auf kleinen Stichprobengrößen und konzentrierte sich auf menschliches Muskelgewebe, nicht auf das Gewebe oder die Organe von Tieren, die von Neandertalern gejagt wurden.

Auch interessant

Zudem könnten die untersuchten Fliegenlarven, die drei verschiedenen Familien angehörten, sich von jenen unterschieden haben, die im späten Pleistozän existierten. Auch die Vielfalt der Klimazonen und Temperaturen, die die Lagerung von Fleisch in der Steinzeit beeinflusst hätten, wurde in der Studie nicht berücksichtigt. Des Weiteren wurde das menschliche Körpergewebe nicht gekocht, verarbeitet oder in irgendeiner Weise zubereitet, was einen Einfluss auf die chemische Zusammensetzung gehabt haben könnte

Primärquelle

https://www.nature.com/articles/d41586-025-02334

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert